Michael Augustin


Wie es so geht

 

Den Gedichten geht es heutzutage erheblich
besser und schlechter. Sie werden eindeutig
von mehr oder weniger Leuten gelesen. Den meisten
Passanten sind Gedichte völlig egal, Lehrern, Redakteuren
und Buchhändlern sind sie noch egaler.
Am egalsten sind sie den Verlegern. Wer Gedichte
verfasst, darf sich, muss es aber nicht, obwohl das
dringend anzuraten ist, Dichter oder Poet nennen,
ohne dafür, wie noch unlängst üblich, ausgelacht zu
werden, und wird mit Preisen aller Art zugeschüttet,
es sei denn, er wird es nicht. Die Jungen sind alt, die
Alten jung, die Toten am lebendigsten. Alles reimt
sich auf Berlin. Was sich nicht auf Berlin reimt, reimt
sich nicht. Es reimt sich einiges, das sich nicht reimt.

 


 

Michael Augustin (*1953 in Lübeck) studierte in Kiel und Dublin irische Literatur und Volkskunde und lebt seit 1979 in Bremen. Er schreibt Gedichte, Minidramen und Kurzprosa sowie Lyrik für Kinder. Seine literarischen Arbeiten, Collagen und Zeichnungen erscheinen weltweit in Zeitschriften. Seine jüngsten Bücher sind "Der stärkste Mann der Welt", "Miniaturen", "Gedichte & Collagen" (2018), "Hurly-Burly – Visual Poems" sowie der Collagenband "Dr. Frankenstein's Patchwork Catalogue" (beide 2020) und der von ihm herausgegebene Band "Hiesige Vorfälle – Kuriositäten aus dem bremischen Biedermeier". Für viele Jahre hat er bei Radio Bremen als Feature-Autor und Redakteur gearbeitet und sich dabei intensiv mit der Präsentation von Lyrik aus aller Welt befasst. Er war Direktor des internationalen Literaturfestivals "Poetry on the Road", sowie Kurator der internationalen Literaturkarawane "What is Poetry?" in Indonesien, Südafrika und Simbabwe. Augustins Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, und er war Gast auf Poesiefestivals in aller Welt. Ausgezeichnet wurde er mit dem Friedrich-Hebbel-Preis und dem Kurt-Magnus-Preis. Er ist Honorary Fellow der Universität Iowa und am Dickinson College in den USA und war Writer in Residence an der Universität Bath in England und im Heinrich-Böll-Cottage in Irland. Er ist Mitglied des PEN. Homepage: www.MichaelAugustin.art



Was gut zu wissen ist

Sujata Bhatt gewidmet, die mich mit ihrem Gedicht "What is Worth Knowing" auf die Spur brachte

 

 

Es ist gut zu wissen,

daß alle zwölf Sekunden

irgendwo auf der Welt

ein Gedicht geschrieben

aber nur alle einhundertdreißig Minuten

eines gelesen wird.

 

Es ist gut zu wissen,

wo der Whiskey steht

und wo die Dose

mit dem Aspirin,

wo der Schalter ist für EIN

und wo der für AUS.

 

Es ist gut zu wissen,

daß Menschen,

denen das Wasser

bis zum Halse steht,

es sich immerhin

aussuchen dürfen,

ob sie ertrinken wollen

oder verdursten.

 

Es ist gut zu wissen,

daß die in Amerika übliche,

auf den Pappbecher gedruckte Warnung,

der darin enthaltene Kaffee

sei extrem heiß,

offenbar auch dann noch gilt,

wenn der darin enthaltene Kaffee

längst kalt geworden ist.

(Ja, so ist Literatur!)

 

Es ist gut zu wissen,

daß ein Wort zu viel

genau so richtig sein kann,

wie ein Wort zu wenig,

daß aber beide Wörter zusammen

richtig falsch sind.

 

Es ist gut zu wissen,

daß man sich immer

zweimal trifft

(falls überhaupt).

 

Es ist gut zu wissen,

daß Gott

alles sieht,

aber meistens schnell wegguckt,

 

daß ein Ei dem anderen gleicht

und Berlin Berlin bleibt.

 

Es ist gut zu wissen,

daß stille Wasser tief sind,

daß die Kunst lang ist

und das Leben kurz

 

und daß die Statistik lügt,

laut Statistik.

 

Es ist gut zu wissen,

daß die Kartoffeln

von unten

ganz anders aussehen

als von oben

 

und daß sich

über Geschmack

sehr wohl streiten läßt!

 

Es ist gut zu wissen,

daß nur wer nichts sucht

alles finden kann,

 

daß die Bestimmung

einer Haltestelle darin besteht,

immer auf den nächsten Bus zu warten

 

und daß angesichts

der ungezählten Minderheiten

die wenigen Mehrheiten

eindeutig in der Minderheit sind.

 

Es ist gut zu wissen,

daß alles, was wir sagen,

gegen uns verwendet werden kann,

aber auch alles, was wir nicht sagen

 

und daß es kein Zuckerschlecken ist,

das Salz der Erde zu sein.

 

Es ist gut zu wissen,

daß der russische Dichter

Welimir Chlebnikow

sowohl vor dreibeinigen Pferden

wie auch vor dreibeinigen Menschen

gewarnt hat –

 

leider vergeblich.

 

Es ist gut zu wissen,

daß in einem einzigen Bleistift

bis zu dreißigtausend Gedichte

enthalten sind.

 

Es ist gut zu wissen,

daß manche Schriftsteller

sich einbilden,

selbst ein von ihnen

unbeschriebenes Blatt Papier

enthalte mehr Literatur

als die kompletten Lebenswerke

ihrer sämtlichen Zeitgenossen.

 

Es ist gut zu wissen,

daß ein gewisser

Philos Blake in New Haven,

nachdem er etliche Tage

in der Gesellschaft

festverschlossener Weinflaschen

hatte verbringen müssen,

aus schierer Verzweiflung

den Korkenzieher erfand.

 

Es ist gut zu wissen,

daß eine einzige Vergangenheit

Hunderte,

ja, Zigtausende von Zukünften

verhindern kann.

 

Es ist gut zu wissen,

daß die Liebe

ein vorübergehender Zustand

zwischen zwei

zu über 70 Prozent aus Wasser

bestehenden Verbindungen ist

 

und daß da schon mal

Tränen fließen können.

 

Es ist gut zu wissen,

daß der Apfel der Versuchung

zwar viel Unheil angerichtet hat

aber ungespritzt war.

 

Es ist gut zu wissen,

daß das Gegenteil

vom Gegenteil

das Gegenteil ist.

 

Es ist gut zu wissen,

daß die Römer

einmal jährlich

am Totengedenktag

der Göttin des Schweigens

einen Fisch mit zugenähtem Maul

opferten.

 

Es ist gut zu wissen,

daß alle Wege

nicht nur hinführen nach Rom,

sondern auch wieder weg.

 

Es ist gut zu wissen,

daß sich aus einem Baum

nicht nur Krippen und Särge

herstellen lassen,

sondern auch Schaukelstühle.

 

Es ist gut zu wissen,

daß fast ein Drittel Deutschlands

von Wald bedeckt ist. Noch!

 

Es ist gut zu wissen,

daß der Appetit

beim Essen kommt.

 

Und daß zu viele Köche

den Brei verderben.

 

Es ist gut zu wissen,

daß alles bleibt wie es ist.

(Änderungen vorbehalten).

 

Es ist gut zu wissen,

daß Menschen, die wissen,

was sie alles nicht wissen,

 

alles wissen.

 


Einige Fragen, Gedichte betreffend

für Pearse Hutchinson & Martin Mooij

 

Können Dichter die Welt ändern?

Gottfried Benn

 

Ist Dichtung
eher ein Kontinent
oder ein Ozean?


Gibt es mehr geschriebene
oder mehr ungeschriebene Gedichte?


Was kostet
die Herstellung
eines Gedichts?


Welches Gedicht
sagt mehr über seinen Autor:
sein erstes oder sein letztes?


Mit wie vielen Gedichten monatlich
kommt ein durchschnittlicher
Vierpersonenhaushalt
über die Runden?


Sollte in einem Gedicht
all das stehen,
was in der Zeitung steht
oder all das,
was nicht in der Zeitung steht?


Welche Wörter,
sind noch nie
in einem Gedicht
vorgekommen ?
Wenn man
einen Gedichtband
auf die Waage legt
und die 300 Gramm anzeigt,
ist dann damit
das Gewicht des Papiers
oder das der Gedichte gemeint?


Was ist
das Gegenteil
von einem Gedicht?


Sind Gedichte
eher laut oder
eher leise?


Wie viele alte Gedichte
passen in ein neues?
Und wie viele neue
in ein altes?


Worin besteht der Unterschied
zwischen einem Gedicht mit Titel
und einem Gedicht ohne Titel,
wenn man davon absieht,
daß das eine einen Titel hat
und das andere keinen?


Wo befindet sich
bei einem Gedicht
das Haltbarkeitsdatum?


Besteht die Möglichkeit,
ein Gedicht
nach Ablauf seiner Zeit
zu verlängern?


Können Gedichte
Tote lebendig machen?
Hat ein Gedicht
mehr oder weniger Leben
als eine Katze,
und wie viele Leben
hat ein Katzengedicht?


Kann man sich
gegen Gedichte
impfen lassen?


Wohin sollen Gedichte
denn noch führen?


Welche Möglichkeit gibt es,
ein Gedicht,
das man auswendig lernen mußte
wieder vollständig zu vergessen?


Wie können sich
Gedichte dagegen wehren,
in Anthologien
gepfercht zu werden?


Welcher Voraussetzungen
bedarf ein Gedicht,
um zu einem Lieblingsgedicht
zu werden?


Können Gedichte
sich durch Selbstbestäubung
vermehren
oder brauchen sie dazu
immer ein Gedicht über Bienen?


Muß ein Liebesgedicht
gut im Bett sein?
Welche Liebesgedichte
sind besser:
die vorher
oder die nachher?


Sind Liebesgedichte
personengebunden
oder beliebig übertragbar?


Wann spätestens
muß ein Kurzgedicht aufhören,
wenn es nicht Gefahr laufen will,
für ein Langgedicht
gehalten zu werden?


Lassen sich Gedichte
künstlich herstellen?


Wie viele Gedichte
darf man höchstens lesen,
wenn man noch Auto fahren muß?
 
Wie lassen sich
Gedichte verhindern?
 
Spürt ein Gedicht,
wenn es vom Mantel
der Literaturgeschichte
gestreift wird?


Sollten Gedichte
mit dem Zusatz
„Unzutreffendes bitte streichen“
versehen werden?


Dürfen Gedichte
die Aussage verweigern?
 
Soll man Ertrinkenden
Gedichte zuwerfen?


An was erinnern sich
unvergeßliche Gedichte?
 
Vertreten
politische Gedichte
die Interessen
unpolitischer Gedichte?


Wie gut muß ein Gedicht sein,
um verboten zu werden?
 
Verdunsten Gedichte,
wenn das Buch
zu lange offen liegen bleibt?
 
Ist die Erde
der einzige Planet,
auf dem Gedichte
vorkommen?


Sollte man
in Krisengebieten
Gedichte einsetzen?


Ist die Versorgung
der Bevölkerung
mit Gedichten
sichergestellt?


Gibt es für den Notfall
Gedichtreserven,
und wie lange
würden die reichen?


Wie lange
kann ein Mensch
ohne Gedichte
überleben?